Caritasverband für die Diözese Speyer
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15. Juli 2022

“Das Wachkoma muss keine Sackgasse sein“ 

Patient mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma erholt sich auf der „Jungen Pflege St. Anastasia“

 

Gerhard Dünkel schafft es mit eigener Kraft. Langsam aber beharrlich schiebt er seinen Rollstuhl in den Garten vor der „Jungen Pflege St. Anastasia“, einer eigenständigen Abteilung des Caritas-Altenzentrums St. Bonifatius in Limburgerhof. Er ist ins Gespräch vertieft mit dem Musiktherapeuten Jonas Gärtner. Die beiden haben schon einige Ausflüge gemeinsam unternommen.

Wenn Stefanie Kreutz, Fachleitung der Jungen Pflege, die beiden sieht, wird ihr ganz warm ums Herz. Für sie und das gesamte betreuende Team grenzt es an ein Wunder. Gerhard Dünkel war Landwirt und hatte vor 15 Monaten einen Arbeitsunfall, bei dem er eine schwere Kopfverletzung erlitten hat. Es folgten komplizierte Operationen, ein langer Krankenhausaufenthalt und noch viel längere Reha-Aufenthalte. Als der 67-Jährige Ende April dieses Jahres, ein Jahr nach dem folgenschweren Unfall, in die „Junge Pflege“ kam, war er in einem schlafähnlichen Zustand. „Seine Frau hat gesagt: Da geht gar nichts mehr, er reagiert nicht auf mich“, erinnert sich Stefanie Kreutz an das erste Gespräch mit der Familie und beschreibt, wie sie und ihre Kollegen ihn zu Beginn seines Aufenthaltes erlebt haben: „Er hat kaum auf Ansprache reagiert, nicht sinnhaft auf Fragen geantwortet, keinen sicheren Blickkontakt hergestellt, keine zielgerichtete Mimik oder Gestik gezeigt und nur unverständlich gesprochen. Ernährt wurde er über eine Magensonde. Die Prognose war sehr schlecht.“ 
Doch seine Frau hat ihn nicht aufgegeben, ihn regelmäßig besucht und den Enkel und den Hund mitgebracht. Wie um alle 17 Bewohner der jungen Pflege kümmerten sich auch um Gerhard Dünkel regelmäßig Logopäden, Physio-, Ergo- und Musiktherapeuten und natürlich professionelle Pflegefachkräfte. „Multiprofessionelle Pflege und Betreuung“, nennt das Stefanie Kreutz. Stück für Stück haben sie Gerhard Dünkel mit vereinten Kräften wieder zurück ins Leben geholt. Wer ihn heute sieht, sieht einen älteren Herrn im Rollstuhl, dem es nicht schnell genug gehen kann, wieder nach Hause zu kommen. Er isst und trinkt alleine. „Gerne auch ein Schnitzel“, wie Stefanie Kreuz lachend sagt. Mit Hilfe kann er auch schon stehen. Und er unterhält sich mit seiner Familie und den Bezugspersonen in der Einrichtung. Er erzählt von seinem Bauernhof und dem Sohn, der jetzt die ganze Arbeit machen muss. Nur an seinen Unfall kann er sich nicht erinnern. Nach einigen Minuten wird er noch müde. Dann nimmt Jonas Gärtner, der Musiktherapeut, seine Gitarre in die Hand und spielt ihm leise Musik vor zum Ausruhen. 
Gerhard Dünkel ist der älteste Bewohner der „Jungen Pflege“, der jüngste ist gerade 19 Jahre alt, die meisten zwischen Mitte 40 und Mitte 50. Viele leben schon seit Jahren hier, manche sogar seit Bestehen der Station. Die „Junge Pflege St. Anastasia“ wurde 2006 eröffnet, erzählt Stefanie Kreutz. „Das war damals die erste Phase F Einrichtung in der Region. Insgesamt gibt es nur vier solcher Einrichtungen in ganz Rheinland-Pfalz“. Phase F bedeutet ein spezialisierter Pflegebereich für Menschen mit neurologisch erworbenen Beeinträchtigungen, wie sie zum Beispiel nach einem Unfall, einem Schlaganfall, einen Herz-Kreislauf-Stillstand oder Hirnblutungen auftreten können. „Die meisten unserer Bewohner haben ein schweres Schädel-Hirntrauma“, erklärt Stefanie Kreutz. Die herausforderndste Lebensform davon sei ein Wachkoma-Zustand. „Ich erkläre das immer so: Ein Wachkoma ist, wie wenn man unter Wasser getaucht wird. Nach Krankenhaus und Reha tauchen die Patienten langsam wieder auf. Manche mehr, manche weniger. Bei den Wachkoma-Patienten schafft es nur die Nasenspitze bis an die Oberfläche“, erklärt Kreutz. Diese Menschen schaffen es nur schwer, mit ihrer Außenwelt in Kontakt zu treten. Fünf der 17 Bewohner sind Wachkoma-Patienten. Sie haben eines gemeinsam, wie Stefanie Kreutz erzählt: Sie haben keine Angehörigen, die sie regelmäßig besuchen können, zum Beispiel, weil sie zu weit entfernt wohnen oder sich im Laufe der vielen Jahren vom Betroffenen emotional distanziert haben. Die Geschichte von Gerhard Dünkel zeige, wie wertvoll der Kontakt mit den Angehörigen für die Entwicklung der Bewohner ist. „Wenn die Familie fehlt, stagnieren auch die Fortschritte“, hat Kreutz beobachtet.
Die Idee für eine Phase F Einrichtung hatte Stefanie Kreutz gemeinsam mit dem Träger, dem Caritasverband für die Diözese Speyer, schon vor 20 Jahren. Als die Sozialpädagogin und Ethikberaterin im Gesundheitswesen vor 20 Jahren im Caritas-Altenzentrum St. Bonifatius anfing, lag da eine Wachkomapatientin in der Alten-pflege. „Ich fand das damals sehr spannend und habe mich auf dem Gebiet weitergebildet“, erzählt sie. Das sprach sich schnell herum und die nächste Patientin kam. Als dann Pläne gemacht wurden, neben dem Altenzentrum eine Tagespflegeeinrichtung zu bauen, hat sie sich dafür eingesetzt, auch eine Station für Wachkoma-Patienten zu bauen. „Junge Pflege St. Anastasia“ sollte sie heißen, weil die Bewohner meist noch jung sind und die Heilige Anastasia die Schutzpatronin für Kopfverletzte ist Der Bedarf war da, das hatten Umfragen in Krankenhäusern und Reha-Kliniken ergeben. Und auch heute spürt das Stefanie Kreutz noch. Etwa acht An-fragen habe sie pro Monat. Aufnehmen könne sie aber in der Regel nur ein bis zwei neue Bewohner pro Jahr, denn die meisten bleiben sehr, sehr lange. „Doch eine Phase-F-Einrichtung ist keine Sackgasse“, sagt Stefanie Kreutz. Einige der Bewohner seien wieder nach Hause gezogen. Eine so weitreichende Genesung wie bei Gerhard Dünkel hat sie aber bisher nur einmal beobachtet: Eine ältere Dame habe sich vollständig erholt und dann noch jahrelang regelmäßig Kuchen für die „Junge Pflege“ gebacken.

Text und Foto: Dr. Christine Kraus für den Caritasverband für die Diözese Speyer
Bildunterschrift: Gerhard Dünkel hat sich von seiner schweren Kopfverletzung gut erholt, obwohl die Prognose anfangs schlecht war. Die Pflegefachkraft Stefanie Kreutz und der Musiktherapeut Jonas Gärtner sowie ein multiprofessionelles Team haben ihn auf seinem Weg begleitet.