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14. November 2023

“Glaubt mir! Missbrauch in der Therapie“  

Kinderpsychologe erst nach über 16 Jahren zu Haftstrafe verurteilt


Max Leon ist sieben Jahre alt, als sein Martyrium beginnt: Er hatte seit der Einschulung Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Ergotherapie, Logopädie und Üben hatten nicht geholfen. Die Schulpädagogin rät zu einer professionellen Unterstützung beim Kinderpsychologen. Max‘ Mutter findet schnell einen Platz bei einem saarländischen Therapeuten und freut sich über die vermeintliche Hilfe. Dass damit für den Jungen ein Albtraum beginnt, kann niemand ahnen. Der Kinderpsychologe missbraucht den Jungen schwer.
 

Heute ist Max Leon (Name geändert) 26 Jahre alt. Zum ersten Mal redet er öffentlich über seine Geschichte und verarbeitet sie in einer Reportage für das ZDF aus der Reihe „37 Grad Leben“. Im Gespräch mit der ZDF-Redakteurin Stephanie Schmidt überwindet er die lähmende Scham und berichtet über seinen Weg. 
 

Er hat 19 sehr schwere Jahre hinter sich. Erst als er 13 Jahre alt war, konnte er sich seiner Mutter offenbaren. Jahrelang hat er die Scham, die Angst und den Ekel weggedrückt. Als Max Leon endlich sein Schweigen bricht und mit dem Kinderschutzdienst des Caritas-Zentrums in Pirmasens über das Erlebte spricht, geht alles recht schnell. 2010 erfolgt eine Anzeige, und es kommt zum Prozess. Alles scheint ganz klar. Herr Heinz, der Psychologe (Name geändert) hatte Max Leons Mutter, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, schriftlich Geld angeboten. 200 Euro monatlich. Er hätte Max Leon niemals weh tun wollen. Für die Staatsanwaltschaft und den Richter eine klare Sache – so klar, dass sie auf die Glaubwürdigkeitsbegutachtung von Max Leon verzichten und Herrn Heinz 2012 verurteilen. Doch Herr Heinz klagt vor dem BGH und bekommt Recht. Max Leon hätte in seiner Glaubwürdigkeit begutachtet werden müssen. Das Urteil geht zurück an das zu-ständige Landgericht in Saarbrücken und der Prozess beginnt erneut.
 

Zehn Jahre vergehen. Der Kinderpsychologe zieht das Verfahren in die Länge und erscheint nicht bei Gericht, lässt sich Verhandlungsunfähigkeit attestieren oder hält sich in einer Privatklinik auf. Seine Gutachten werden von namhaften saarländischen Psychotherapeuten ausgestellt. Eine Überprüfung der Atteste er-folgt lange Zeit nicht. Währenddessen bedeuten die Verhandlungstage für Max Leon eine weitere Traumatisierung. "Ich habe mich tagelang auf den Moment vor-bereitet, dass ich über diesen Albtraum reden muss. Und auch noch vielleicht demjenigen gegenüberstehe, der ihn ausgelöst hat". 
 

Immer wieder erscheint Max Leon vor Gericht, zitternd, mit den Nerven am Ende, um erst im Gerichtssaal zu erfahren, dass der Täter wieder nicht erschienen ist. Max Leon fühlt sich in dieser Zeit wie der Täter und nicht wie das Opfer. "Ich durfte lange keine Therapie machen, um das Trauma zu verarbeiten, damit meine Aus-sage nicht verfälscht wird. In dieser Zeit habe ich meine Pubertät durchlebt. Von mir wurde verlässliches Erscheinen gefordert und gleichzeitig musste ich erleben, wie der Täter sich einfach aus der Verantwortung zieht und währenddessen noch weiter auf freiem Fuß ist und wahrscheinlich arbeitet." Das Verfahren zieht sich weiter. Mit allem, was dazu gehört. Max Leons Mutter erfährt von dessen neuer Therapeutin vom Ethikverein, der einzigen Anlaufstelle, die sich in Deutschland um Opfer von Missbrauch in der Therapie kümmert. Dr. Andrea Schleu hat ihn vor vielen Jahren gegründet. Damals ist sie Ombudsfrau in der kassenärztlichen Vereinigung und stellt fest, dass es in der Psychotherapie eine Leerstelle in der Betreuung von Missbrauchsfällen gibt. Wer in Deutschland in einer Psychotherapie "Grenzverletzungen" erlebt, hat keine Anlaufstelle. Es sind keine Einzelfälle, aber sie fallen bis dahin durchs Raster. 
 

Der Fall von Max Leon erhält durch die Unterstützung vom Ethikverein eine neue Wendung. Der gemeinnütze Verein berät kostenlos und anonym. Seit vielen Jahren engagiert sich auch Prof. Christian Laue dort. Der Rechtsanwalt lehrt außer-dem am Heidelberger Institut für Kriminologie und kümmert sich oft strafrechtlich um die Vertretung von Missbrauchsopfern in der Therapie. Für Max Leon und sei-ne Mutter beginnt sich die Geschichte zu drehen: "Wir würden heute noch vor Gericht stehen, und vielleicht klingt es pathetisch, aber Herr Laue war eine Art Held für uns." Prof. Christian Laue lässt die Urteilsunfähigkeit von Herrn Heinz überprüfen.  Sie hält gleich der ersten Überprüfung nicht stand. Herr Heinz muss sich dem Verfahren stellen und wird aus einer Privatklinik heraus in Polizeigewahrsam genommen. Zusätzlich meldet sich ein weiteres Opfer. Ein Junge, der bereits 30 Jahre zuvor Opfer von Herrn Heinz wurde. Die Mutter war damals zu einer Beratungsstelle gegangen und man hatte ihr gesagt: "So ein angesehener Kinderpsychologe, der vergeht sich doch nicht an Kindern." Als sie in der Zeitung von Max Leons Geschichte liest, weiß sie, dass sie dieses Mal nicht schweigen wird und meldet sich als Zeugin.
 

Wie sicher sich Herr Heinz gefühlt haben muss, ist daran erkennbar, dass er 2019 ein Buch im Eigenverlag veröffentlicht. Zu einem Zeitpunkt, als ihm namhafte Gutachter eine Verhandlungsunfähigkeit attestierten und das Bild eines völlig in-stabilen Mannes zeichneten. Max‘ Mutter entdeckt eines Abends dieses Buch im Internet. Es ist eine Streitschrift für Pädophilie, die Kindesmissbrauch gutheißt. Prof. Laue ist sich sicher: "Dieses Buch war eine große Hilfe. Damit konnte die Staatsanwaltschaft endgültig belegen, dass Herr Heinz ein überzeugter Pädophiler ist."
 

Im Dezember 2020 wird in Saarbrücken das Urteil gefällt. Herr Heinz wird wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. 

Doch die Geschichte hört hier nicht auf. Ein Gedanke lässt Max Leon keine Ruhe: Hat Herr Heinz seine Approbation verloren oder darf er weiter therapieren? Im Ur-teil steht nur etwas von einem Berufsverbot von fünf Jahren. Laut Ethikverein und wissenschaftlicher Literatur werden 80 Prozent der Täter zu Wiederholungstätern. Dieser Gedanke lässt Max Leon keine Ruhe. Er schreibt Briefe an das Landesamt für Soziales und die saarländische Psychotherapeutenkammer. Sie bleiben weitestgehend unbeantwortet. Manchmal wird ihm geschrieben, dass der Datenschutz eine Auskunft verhindere. Für Max Leon eine kaum auszuhaltende Vorstellung, dass der Täter bald wieder therapieren könnte. 2024 hat er seine Strafe abgesessen.
 

Missbrauch in der Therapie ist ein Tabu. Das erkennt auch das ZDF. Die Redaktion beginnt im Februar 2023 mit der Recherche zu Max Leons Geschichte. Schnell ist klar, dass er mit diesem Film die Flucht nach vorne antreten muss. Max Leon ist inzwischen 26 Jahre alt, macht eine Ausbildung zum IT-Fachmann, engagiert sich in der freiwilligen Feuerwehr und hat seit zwei Jahren eine feste Freundin. Seinen Missbrauch hat er, bis zu den Dreharbeiten, in seinem privaten Umfeld nicht thematisiert. Der Film "Glaubt mir! Missbrauch in der Therapie" erzählt von seiner Geschichte und begleitet ihn in den Momenten der Offenlegung.
 

www.zdf.de/dokumentation/37-grad-leben/glaubt-mir-missbrauch-in-der-therapie-102.html

 

Text: Stephanie Schmidt ZDF, Fotos: Anna Ziegler ZDF 
Bildunterschrift: Max Leon überwindet die Scham und spricht mit ZDF-Redakteurin Stephanie Schmidt über den Missbrauch durch einen Kinderpsychologen.